OVG NRW: Kein Berufen auf Abstandsverstöße des Nachbarn bei eigenen Verstößen
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG)
Beschluss vom 18.06.2020 – 7 A 1510/18
Das OVG entschied, dass Grundstückseigentümer kein Abwehrrecht aufgrund eines nachbarrechtlichen Verstoßes gegen das Abstandsrecht geltend machen können, wenn sie selbst in vergleichbarer Weise gegen das Abstandsrecht verstoßen. Ein solches Verhalten stellt eine unzulässige Rechtsausübung dar. Diese ist nach den aktuellen Umständen zu bestimmen. Eine Betrachtung von Umständen aus der Vergangenheit verbietet sich. Maßgeblich ist ausschließlich der Jetztzustand der nachbarrechtlichen Konstellation.
Die Parteien sind Eigentümer von benachbarten Grundstücken. Auf dem Grundstück des Klägers befinden sich mehrgeschossige denkmalgeschützte Wohngebäude. Das klägerische Grundstück hält die gebotenen Abstände nicht ein. Ein großer Teil der Abstandsflächen fällt auf das Nachbargrundstück. Dem Nachbarn wurde der Bau eines mehrgeschossigen Ersatzbaus für ein abgerissenes früheres Gebäude genehmigt. Das geplante Gebäude verstößt ebenfalls gegen das Abstandsrecht, da ein Teil der Abstandsflächen wiederum auf das klägerische Grundstück fällt. Mit der Klage wendet sich der Kläger gegen die Baugenehmigung, die seinem Nachbarn erteilt wurde. Der Kläger beruft sich auf den Abstandsflächenverstoß und auf das Gebot der Rücksichtnahme.
Nachdem die Vorinstanzen für den Kläger erfolglos verliefen, erreichte der Rechtsstreit das OVG. Das Gericht entschied, dass der Kläger sich nicht auf den Verstoß der Abstandsflächen berufen dürfe, da er die Regeln selbst nicht einhalte. Ein Verstoß gegen nachbarrechtsrelevantes Abstandsrecht liege zwar in dem hiesigen Fall vor, weil das Vorhaben des Nachbarn Abstandsflächen auslöst, die auf das Grundstück des Klägers fallen. Auf diesen Verstoß gegen Abstandsrecht könne sich der Kläger aber nach dem Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben nicht berufen.
Das allgemeine Rechtsverständnis billige es einem Grundstückseigentümer nicht zu, rechtliche Abwehrmaßnahmen gegen eine durch einen Nachbarn hervorgerufene Beeinträchtigung zu ergreifen und zugleich diesem Nachbarn quasi spiegelbildlich dieselbe Beeinträchtigung zuzumuten. Denn der öffentlich-rechtliche Nachbarschutz beruhe auf einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit, das maßgeblich durch die objektiven Grundstücksverhältnisse geprägt sei. Erst aus der Störung des nachbarlichen Gleichgewichts und nicht schon aus der Abweichung von öffentlich-rechtlichen Normen ergebe sich deshalb der Abwehranspruch des Nachbarn.
Die abstandsrechtlichen Erfordernisse beinhalten auch Belange des Sozialabstands. Hierbei komme es ausschließlich auf den sog. Jetztzustand an, der rechtlich und tatsächlich maßgeblich sei. Nach dem Beschluss des OVG komme es auf die Erteilung einer Baugenehmigung nicht an. Es sei unerheblich, dass das klägerische Gebäude möglicherweise legal errichtet wurde, da der Kläger zu einem späteren Zeitpunkt (ungenehmigte) Veränderungen mit abstandsrechtlicher Relevanz vorgenommen habe. Dadurch sei ein abstandsflächenrechtlicher Bestandsschutz entfallen. Maßgeblich für den einzuhaltenden Abstand sei daher allein der aktuelle Zustand.
Kategorie: Bau- und Architektenrecht, 04. August 2020
Ansprechpartner:
- Atif Yildirim
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