Zum Anspruch auf Erteilung einer Befreiung von den Vorschriften der Landesheimbauverordnung (LHeimBauVO)
Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg
Beschluss vom 04.09.2023 – 6S 1106/22
Der VGH des Landes Baden-Württemberg hat beschlossen, dass die unteren Verwaltungsbehörden als untere Aufsichtsbehörde (Heimaufsicht) für die Durchführung des Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetzes und der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen zuständig sind, soweit keine ausdrückliche abweichende Zuständigkeitsbestimmung getroffen wurde. Eine Befreiung von den in den §§ 2 bis 4 LHeimBauVO normierten Anforderungen darf gemäß § 6 Absatz 1 LHeimBauVO nur erteilt werden, wenn die Befreiung mit den Interessen und Bedürfnissen der BewohnerInnen vereinbar ist. Hierbei handelt es sich um eine gerichtlich voll überprüfbare Tatbestandsvoraussetzung, die regelmäßig nur dann erfüllt ist, wenn die Abweichungen von den normierten Mindestanforderungen entweder geringfügig sind oder wenn sie – soweit es um mehr als nur geringfügige Unterschreitungen des Mindeststandards geht – durch besondere Vorteile ausgeglichen werden.
Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Klägerin ist seit 1994 Betreiberin einer Seniorenresidenz. Sie stellte einen Befreiungsantrag vor den Verwaltungsbehörden gemäß § 6 Absatz 1 LHeimBauVO, welcher abgelehnt wurde. Die Klägerin machte sodann vor dem erstinstanzlichen Verwaltungsgericht (VG) geltend, der Ablehnungsbescheid des Landratsamts sei formell rechtswidrig, weil mit ihm die unzuständige Behörde gehandelt habe. Weiter sei der Ablehnungsbescheid materiell rechtswidrig; die Klägerin erfülle den Befreiungstatbestand des § 6 Absatz 1 LHeimBauVO. Die Klägerin begehrte insofern eine Verurteilung auf Neubescheidung vor dem VG. Das VG erklärte die Klage für unbegründet, der Ablehnungsbescheid sei formell, wie auch materiell rechtmäßig.
Hiergegen legte die Klägerin Berufung ein. Ohne Erfolg. Nach Auffassung des VGH Baden-Württemberg sei diese nicht zulässig und das Urteil des VG auch nicht zu beanstanden. Die Klägerin macht in der Berufungsinstanz weiter geltend, der Ablehnungsbescheid des Landratsamts sei aus den o.g. Gründen formell rechtswidrig und das erstinstanzliche VG habe im Rahmen seiner Urteilsfindung den Befreiungstatbestand des § 6 Absatz 1 LHeimBauVO zu Unrecht auf die Fallgruppe geringfügiger Abweichungen von den Mindeststandards dieser Verordnung verengt.
Soweit die Klägerin geltend macht, der Ablehnungsbescheid des Landratsamts sei formell rechtswidrig (s.o.), lege sie nach Auffassung des VGH Baden-Württemberg bereits nicht schlüssig dar, dass eine andere Behörde instanziell zuständig sein könnte, sondern stelle lediglich die vom VG gegebene Begründung für die Zuständigkeit des Landratsamts als untere Heimaufsichtsbehörde in Frage und vermöge damit keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zu begründen. Soweit die Klägerin weiter geltend mache, das Verwaltungsgericht verenge den Befreiungstatbestand des § 6 Abs. 1 LHeimBauVO zu Unrecht auf die Fallgruppe geringfügiger Abweichungen von den Mindeststandards dieser Verordnung, wecke sie ebenfalls keine ernstlichen Zweifel an dem angefochtenen Urteil.
Der VGH Baden-Württemberg ist weiter der Auffassung, es bestünden zum einen keine Bedenken an der Richtigkeit der Entscheidung des VG, der Ablehnungsbescheid sei formell rechtmäßig: Das VG führte aus, es fehle zwar an einer Zuständigkeitsregelung im Gesetz bzw. in der LHeimBauVO. Es liege demnach eine planwidrige Regelungslücke vor, die im Wege richterlicher Rechtsfortbildung zu schließen sei. Eine solche sei angesichts von Art. 70 Absatz 1 Satz 1 Landesverfassung (LV) und den Regelungen des Landesverwaltungsgesetzes nur in engen Grenzen zulässig. Vorliegend lasse sich jedoch Art. 70 Absatz 1 Satz 2 LV, wonach Aufgaben, die von nachgeordneten Verwaltungsbehörden zuverlässig und zweckmäßig erfüllt werden könnten, diesen zuzuweisen seien, entnehmen, dass für die Durchführung der Landesheimbauverordnung grundsätzlich die Landratsämter in den Landkreisen und die Gemeinden in den Stadtkreisen zuständig seien.
Diese Ausführungen seien rechtskonform, fehle es auch nach Auffassung des Senats schon an einer planwidrigen Regelungslücke. Vielmehr ergebe bereits die Auslegung des Gesetzes, dass die unteren Heimaufsichtsbehörden für die Bearbeitung von Befreiungsanträgen nach § 6 Absatz 1 LHeimBauVO zuständig seien. Aus dem Regelungszusammenhang und der Gesetzgebungshistorie ergebe sich, dass – soweit keine ausdrückliche abweichende Zuständigkeitsbestimmung getroffen wurde – die unteren Verwaltungsbehörden als untere Aufsichtsbehörden (Heimaufsicht) für die Durchführung des Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetzes und der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen zuständig seien. Bereits die zur Vermeidung von Interessenkollisionen bei Trägerschaft eines Stadt- oder Landkreises in § 28 Abs. 2 WTPG getroffene Regelung, nach welcher in diesen Fällen die untere Aufsichtsbehörde eines benachbarten Stadt- oder Landkreises für die Überprüfungen sowie die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten zuständig ist, deute auf eine Regelzuständigkeit der unteren Verwaltungsbehörden als untere Heimaufsichtsbehörden hin. Dem könne nicht entgegengehalten werden, dass die Regelung in § 27 Absatz 4 Satz 1 WTPG, nach der Verwaltungsbehörden im Sinne von § 35 OWiG die unteren Aufsichtsbehörden sind, entbehrlich wäre, wenn schon nach § 28 Abs. 1 WTPG grundsätzlich die unteren Verwaltungsbehörden für die Durchführung des Gesetzes zuständig wären. Anlass für eine gesonderte Regelung bestehe insoweit deshalb, weil Verwaltungsbehörden im Sinne des Ordnungswidrigkeitenrechts die Stellen der öffentlichen Verwaltung seien, denen die Eingriffsbefugnisse zur Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten (Bußgeldkompetenz) übertragen worden seien. Dies müssten nicht notwendig die Behörden sein, die für die Durchführung des jeweiligen Fachgesetzes zuständig sind.
Zum anderen treffe die Prämisse, das VG habe den Befreiungstatbestand des § 6 Absatz 1 LHeimBauVO zu Unrecht verengt, nicht zu. Das VG führte hierzu aus, der Bescheid sei materiell rechtmäßig, denn die Erteilung der begehrten Befreiungen sei mit den Interessen und Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner nicht vereinbar. Die Bewertung, wann eine Befreiung mit den Interessen und Bedürfnissen der Bewohner vereinbar sei, liege – wie sich bereits aus der zu der Vorgängervorschrift des § 31 HeimMindBauV ergangenen Rechtsprechung ergebe – nicht im Ermessen des Beklagten, sondern sei gerichtlich voll überprüfbar. Aus den vom Sozialministerium als oberste Aufsichtsbehörde im Sinne des § 27 Absatz 1 Nummer 1 WTPG erlassenen ermessenslenkenden Richtlinien zur LHeimBauVO könne für den vorliegenden Fall kein Maßstab abgeleitet werden, wann eine Befreiung mit den Interessen und Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner vereinbar sei, weil die Einrichtung der Klägerin keiner der dort angeführten besonderen Fallgruppen unterfalle. Es handele sich weder um eine bis zu 30 Bewohnerplätze umfassende Kleinsteinrichtung noch lägen bei ihr nur sehr geringfügige Unterschreitungen der Mindestvorgaben der Landesheimbauverordnung vor. Dies lasse sich angesichts der Vielzahl und der Qualität der Abweichungen feststellen, ohne dass es darauf ankomme, dass die ermessenslenkenden Richtlinien keine näheren Ausführungen dazu enthielten, wann eine sehr geringfügige Unterschreitung anzunehmen sei. Das Verwaltungsgericht habe sich hiermit ausdrücklich der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 17.03.1989 – 4 C 41.85 -, GewArch 1989, 262 <juris Rn. 25 ff.>) zu § 31 Absatz 1 HeimMindBauV angeschlossen und diese mit der Erwägung, dass die Norm im Wesentlichen denselben Wortlaut aufweise und den gleichen Zweck erfüllen solle, rechtskonform auf § 6 Absatz 1 LHeimBauVO übertragen. Nach dieser Rechtsprechung kann eine Befreiung aber nicht nur dann in Betracht kommen, wenn eine Unterschreitung des Mindeststandards geringfügig ist, sondern auch dann, wenn sie durch besondere Vorteile ausgeglichen wird. Dementsprechend habe das Verwaltungsgericht auch nicht lediglich geprüft, ob und inwieweit die geforderten Mindeststandards unterschritten werden, sondern auch, ob die Abweichungen durch besondere Vorteile, etwa durch großzügige, über die Mindestanforderungen in § 4 LHeimBauVO hinausgehende Gemeinschaftsbereiche ausgeglichen werden und habe dies zu Recht verneint.
Kategorie: Bau- und Architektenrecht, 14. Oktober 2023
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