BGH: Technische Vorschriften können die Schutzpflichten in Wohnheim für Menschen mit geistiger Behinderung näher definieren.
Bundesgerichtshof (BGH)
Urteil vom 22.08.2019 – III ZR 113/18
Der unter anderem für Rechtsstreitigkeiten über Dienstverhältnisse zuständige III. Zivilsenat des BGH hat heute die Schutzpflichten eines Wohnheims für Menschen mit einer geistigen Behinderung gegenüber den Bewohnern präzisiert.
Die Beklagte in dem hiesigen Rechtsstreit ist Trägerin eines Wohnheims für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Die Klägerin lebte dort seit März 2012. Sie ist geistig behindert und hat eine deutliche Intelligenzminderung. Vertreten durch ihre Mutter nahm sie die Beklagte auf Schmerzensgeld und Schadensersatz wegen Verbrühungen in Anspruch, die sie in der Einrichtung erlitt.
Im April 2013 beabsichtigte die Klägerin, ein Bad zu nehmen, und bat eine der Betreuerinnen des Heimes um eine entsprechende Erlaubnis. Diese wurde ihr – wie auch schon in der Vergangenheit – erteilt. Die Klägerin ließ daraufhin heißes Wasser in eine mobile, in der Dusche bereit gestellte Sitzbadewanne ein, wobei die Temperaturregelung über einen Einhebelmischer ohne Begrenzung der Heißwassertemperatur erfolgte. Anders als in früheren – problemlos verlaufenen – Fällen war das ausströmende Wasser so heiß, dass die Klägerin schwerste Verbrühungen an beiden Füßen und Unterschenkeln erlitt. Sie schrie lautstark, konnte sich aber auf Grund ihrer geistigen Behinderung nicht selbst aus der Situation befreien. Dies gelang erst, als ein anderer Heimbewohner ihr zur Hilfe eilte, das Wasser abließ und eine Pflegekraft herbeirief. Bei der nachfolgenden Heilbehandlung im Krankenhaus wurden mehrere Hauttransplantationen durchgeführt. Es kam zu erheblichen Komplikationen.
Die Klägerin machte geltend, das austretende Wasser müsste annähernd 100 °C heiß gewesen sein. Aber selbst eine konstante Einstellung der Wassertemperatur auf „nur“ 60 °C sei zu hoch. In der DIN EN 806-2 für die Planung von Trinkwasserinstallationen werde für bestimmte Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Seniorenheime eine Höchsttemperatur von 43 °C, in Kindergärten und Pflegeheimen sogar von nur 38 °C empfohlen. Es sei pflichtwidrig gewesen, sie ohne Aufsicht und insbesondere ohne Kontrolle allein baden zu lassen.
Das LG wies die auf Zahlung eines Schmerzensgeldes, einer monatlichen Rente sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für weitere materielle und immaterielle Schäden gerichtete Klage ab. Die Berufung der Klägerin hatte ebenfalls keinen Erfolg. Der III. Zivilsenat gab nun der Revision der Klägerin gegen das Berufungsurteil statt.
Der Heimbetreiber habe nach Ansicht des BGH nämlich die Pflicht, unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts der ihm anvertrauten Bewohner diese vor Gefahren zu schützen, die sie selbst nicht beherrschen. Welchen konkreten Inhalt diese Verpflichtung habe, könne nicht generell, sondern nur aufgrund einer Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden.
In diese Einzelfallabwägung könnten auch technische Regelungen wie insbesondere DIN-Normen einzubeziehen sein. Zwar hätten DIN-Normen als technische Regeln keine normative Geltung. Da sie jedoch die widerlegliche Vermutung in sich tragen würden, den Stand der allgemein anerkannten Regeln der Technik wiederzugeben, seien sie zur Bestimmung des nach der Verkehrsauffassung Gebotenen in besonderer Weise geeignet und könnten deshalb regelmäßig zur Feststellung von Inhalt und Umfang bestehender Verkehrssicherungspflichten herangezogen werden.
Ein Heimbewohner, der dem Heimträger zum Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit anvertraut sei, könne erwarten, dass der Heimträger ihn jedenfalls vor einer in einer DIN-Norm beschriebenen Gefahrenlage schütze, wenn er selbst auf Grund körperlicher oder geistiger Einschränkungen nicht in der Lage sei, die Gefahr eigenverantwortlich zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Um die daraus folgende Obhutspflicht zu erfüllen, müsse der Heimträger, soweit dies mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand möglich und für die Heimbewohner sowie das Pflege- und Betreuungspersonal zumutbar sei, nach seinem Ermessen entweder die Empfehlungen der DIN-Norm umsetzen oder aber die erforderliche Sicherheit gegenüber der dieser Norm zugrunde liegenden Gefahr auf andere Weise gewährleisten, um Schäden der Heimbewohner zu vermeiden.
Dementsprechend sei auch der Inhalt der DIN EN 806-2 in den Blick zu nehmen. Der DIN sei über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus allgemeingültig zu entnehmen, dass bei Warmwasseranlagen das Risiko von Verbrühungen bestehe, wenn die Auslauftemperatur mehr als 43 °C betrage, und deshalb in Einrichtungen mit einem besonders schutzbedürftigen Benutzerkreis („Krankenhäuser, Schulen, Seniorenheime usw.“) spezielle Sicherheitsvorkehrungen zur Verminderung des Risikos von Verbrühungen erforderlich seien.
Danach hätte die Beklagte aus den vorstehenden Gründen entweder eine Begrenzung der Temperatur des austretenden Wassers entsprechend den Empfehlungen der DIN EN 806-2 technisch sicherstellen müssen. Dies wäre ohne Umbau oder Erneuerung der gesamten Heizungsanlage allein durch Austausch der Mischarmaturen in der Dusche möglich gewesen. Oder aber ohne eine solche Änderung an der Wasserinstallation hätte die Klägerin vor Schaden bewahrt werden müssen, indem die Temperatur des Badewassers durch eine Betreuungsperson der Einrichtung überprüft worden wäre.
Kategorie: Dienstvertrag, 22. August 2019
Ansprechpartner:
- Atif Yildirim
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