Zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten ist eine Videoüberwachungsanlage an den Eingangstoren eines Betriebsgeländes in der Regel weder geeignet noch erforderlich

Zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten ist eine Videoüberwachungsanlage an den Eingangstoren eines Betriebsgeländes in der Regel weder geeignet noch erforderlich


Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen, Urteil vom 6.7.2022 – 8 Sa 1150/20

Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat entschieden, dass eine Videoüberwachungsanlage an den Eingangstoren eines Betriebsgeländes in der Regel weder geeignet noch erforderlich ist. Der – erstmalige – Zugriff auf Videoaufzeichnungen, die mehr als ein Jahr zurückliegen, ist zum Zwecke der Aufdeckung eines behaupteten Arbeitszeitbetruges regelmäßig nicht angemessen. Solche Daten unterliegen im Kündigungsschutzprozess einem Beweisverwertungsverbot. Verpflichtet sich der Arbeitgeber in einer Betriebsvereinbarung, eine personenbezogene Auswertung von Daten, die er durch den Einsatz von Kartenlesegeräten gewonnen hat, nicht vorzunehmen, kann sich auch der einzelne Arbeitnehmer darauf berufen. Erklärt der Arbeitgeber in einem Betriebskonzept oder auf einer Beschilderung einer Videoüberwachungsanlage, die hieraus gewonnenen Daten nur 96 Stunden lang aufzubewahren, kann ein Arbeitnehmer hierauf die berechtigte Erwartung der Privatheit stützen, dass der Arbeitgeber nur auf Videodateien Zugriff nehmen wird, die – bei erstmaliger Sichtung – nicht älter als 96 Stunden sind.

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Parteien stritten in einem Kündigungsschutzverfahren um die Rechtmäßigkeit einer außerordentlichen und einer hilfsweisen ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung. Die Kündigung wurde auf den Vorwurf gestützt, dass der Kläger an mehreren Tagen die Erbringung seiner Arbeitsleistung vorgetäuscht habe. Die Arbeitgeberin berief sich auf Erkenntnisse aus einer Videoüberwachung und auf Daten aus einem in einer Betriebsvereinbarung geregelten Zeiterfassungssystem. Der Kläger behauptete, dass er seine Arbeitsleistung vollständig erbracht habe.

Die Kündigungsschutzklage hatte vor dem Arbeitsgericht Erfolg. Das Landesarbeitsgericht wies die Berufung der Beklagten zurück und entschied, dass die Auswertung der Videoaufzeichnungen der an den Toreingängen zum Betriebsgelände installierten Kameras unzulässig war. Die Heranziehung, Betrachtung und Auswertung der Videoaufzeichnungen der an den Toreingängen zum Betriebsgelände der Beklagten installierten Kameras zum Zwecke der Prüfung, ob der Kläger am fraglichen Tag das Betriebsgelände betreten und verlassen hat, stelle eine Verarbeitung personenbezogener Daten von Beschäftigten im Sinne des § 26 Abs. 1 BDSG dar. Die Videoaufzeichnung sei weder für die Durchführung oder für die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses gem. § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG noch für die Aufdeckung einer Straftat gem. § 26 Abs. 1 S.2 BDSG erforderlich gewesen. Die grundsätzliche –abstrakte- Geeignetheit des eingesetzten Mittels der Videoüberwachung fehle bereits, um den erstrebten Zweck der Überprüfung eines vertragsgemäßen Verhaltens sowie des Nachweises eines Arbeitszeitbetruges zu führen. Die Aufzeichnungen der Videokameras dokumentierten nur den Zutritt der Arbeitnehmer auf das Werkgelände sowie das Verlassen desselben und nicht die Arbeitszeit und die Anwesenheit am Arbeitsplatz. Zudem war der Zugang zum Werksgelände durch zahlreiche andere Eingänge, die nicht durch Videokameras überwacht wurden, möglich und die Arbeitnehmer konnten mit Schutzkleidung oder anderer Bedeckungen nicht stets hinreichend klar identifiziert werden. Weiter führte das Gericht aus, dass das Mittel der Videoüberwachung nicht das mildeste aller in Betracht kommenden Mittel gewesen sei und somit nicht erforderlich.  Die Beklagte hätte zum Beispiel als milderes Mittel in der Betriebsabteilung eine Anwesenheitserfassung der Beschäftigten durch Vorgesetzte oder durch technische Einrichtungen durchführen können. Wenn die Dokumentation der An- und Abwesenheit bereits beim Zu- und Abgang erfolgen solle, dann hätte die Beklagte eine elektronische Anwesenheitserfassung in Form von Karten und Kartenlesegeräten an den Werkstoren durchführen müssen, wobei dann die Befugnisse der Beklagten zur Auswertung dieser Daten nicht durch Betriebsvereinbarung dahingehend eingeschränkt werden dürften, dass eine personenbezogene Auswertung nicht stattfinde. Das Mittel der Videoüberwachung sei auch nicht angemessen gewesen, da die zeitliche und sachliche Intensität des Eingriffs erheblich waren und außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stand. Die Videokameras erfassen sämtliche Zu- und Abgänge von Arbeitnehmern an sämtlichen Eingängen zum Betriebsgelände durch Bildaufzeichnungen, wonach erkennbar sei mit welchem zeitlichen Vorlauf zum Beginn der Arbeitszeit der Arbeitnehmer das Gelände betritt, wie er gekleidet ist und ob und von wem er ggf. begleitet wird. Das Mittel sei auch nicht dadurch angemessen gewesen, dass die Beklagte mit der Einrichtung der Videoüberwachung primär die Verhinderung des Zutritts Unbefugter auf das Betriebsgelände sowie die Unterbindung bzw. den Nachweis von Eigentumsdelikten verfolgen wollte. Die Verwertung der durch die Videoüberwachung gewonnenen Erkenntnisse und Beweismittel stelle zudem einen Grundrechtsverstoß dar, da der Kläger sachlich und zeitlich in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt gewesen sei.

Quelle: otto-schmidt, News, Arbeits-und Sozialrecht vom 07.11.2022

Kategorie: Arbeitsrecht, 22. November 2022



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