Überstundenzuschläge bei Teilzeittätigkeit
Diskriminierung bei der Vergütung In Pflegeeinrichtungen arbeiten überdurchschnittlich viele Mitarbeitende in Teilzeit. Gleichzeitig gehört Mehrarbeit zum Alltag. Das Bundesarbeitsgericht stärkt die Rechte von Teilzeitbeschäftigten und verlangt eine neue Sicht auf Überstundenzuschläge.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26.11.2025 – Az. 5 AZR 118/23
Auch in der Altenpflege wird durchweg von „Mehrarbeit“ gesprochen, wenn die vereinbarte Arbeitszeit überschritten wird und von „Überstunden“, wenn die regelmäßige Arbeitszeit der Vollzeitkräfte überschritten ist. Tarifverträge und Arbeitsverträge knüpfen Überstundenzuschläge häufig an die Überschreitung der Vollzeitgrenze. Damit werden Vollzeit- und Teilzeitkräfte unterschiedlich behandelt. Das führt regelmäßig dazu, dass sich Teilzeitkräfte hinsichtlich der Zahlung von Überstundenzuschlägen benachteiligt fühlen. Von der Arbeitgeberseite wird eine unterschiedliche Behandlung von Vollzeit- und Teilzeitkräften bei Überstundenzuschlägen damit begründet, dass der Zweck der Zuschläge darin bestehe, eine erhöhte Belastung der Mitarbeitenden auszugleichen. Das höchste deutsche Arbeitsgericht sah diese Praxis seit längerer Zeit kritisch. Nun hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in seinem Urteil vom 26.11.2025 (Az. 5 AZR 118/23) klargestellt, dass eine solche pauschale Regelung unwirksam ist. Wenn Mehrarbeitszuschläge erst ab einer bestimmten Stundengrenze vorgesehen sind, ohne zu berücksichtigen, dass Teilzeitkräfte eine niedrigere vertragliche Wochenarbeitszeit haben, ist das dis-kriminierend. In solchen Fällen muss die Schwelle, ab der ein Zuschlag anfällt, für Teilzeitbeschäftigte proportional abgesenkt werden. Das gilt auch für Regelungen in Tarifverträgen.
Teilzeitkraft sah sich benachteiligt
Geklagt hatte ein mit 30,8 Stunden pro Woche in Teilzeit beschäftigter Arbeitnehmer. Der einschlägige Tarifvertrag sah für Vollzeitkräfte eine Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden vor. Mehrarbeitszuschläge sollten erst gezahlt werden, wenn die 41. Wochenstunde erreicht war. Bis einschließlich der 40. Stunde gab es keinen Zuschlag. Der Kläger verlangte Zuschläge bereits dann, wenn er seine vertragliche Teilzeitgrenze überschritt. Er argumentierte, dass es nicht sein könne, dass er deutlich mehr Stunden zusätzlich leisten müsse als eine Vollzeitkraft, bevor er in den Genuss eines Zuschlags komme. Dieses Modell benachteilige Teilzeitkräfte. Die Vorinstanzen hielten die tarifliche Regelung zunächst für zulässig. Das BAG hat diese Entscheidung nun aufgehoben und dem Arbeitnehmer Recht gegeben. Die im Streit stehende Regelung verstößt nach Auffassung des Gerichts gegen das Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 1 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) und ist insoweit unwirksam. Wenn Vollzeitkräfte ab einer bestimmten Stunde X einen Zuschlag erhalten, darf man Teilzeitkräften nicht erst ab derselben Stunde X denselben Zuschlag gewähren. Es kommt auf das Verhältnis von individu-eller Arbeitszeit zur Vollzeit an. Die Grenze für Zuschläge muss also „mitwandern“.
Diskriminierungsverbot und Pro-rata-temporis-Gundsatz
Nach § 4 Abs. 1 TzBfG dürfen Teilzeitbeschäftigte wegen der Teilzeit nicht schlechter behan-delt werden als vergleichbare Vollzeitkräfte, es sei denn, es gibt einen sachlichen Grund. Spe-ziell für die Vergütung ordnet das TzBfG den sogenannten Pro-rata-temporis-Grundsatz an. Danach erhalten Teilzeitkräfte Leistungen grundsätzlich im gleichen Verhältnis wie ihre Ar-beitszeit zur Vollzeit steht. Das BAG sah im Verfahren in der starren 41-Stunden-Grenze eine unzulässige Schlechterstellung der Teilzeitkräfte. Diese Ungleichbehandlung ist nicht dadurch zu rechtfertigen, dass besondere „Mehrbelastung“ erst bei sehr hohen Wochenarbeitszeiten auftrete. Auch Teilzeitkräfte, die über ihre vereinbarte Stundenzahl hinaus arbeiten, sind einer erhöhten Belastung ausgesetzt. Konsequenz der Diskriminierung ist die Nichtigkeit der tariflichen Regelung. Der Tarifvertrag bleibt im Übrigen bestehen, aber die Zuschlagsgrenze ist vom Gericht so umzudeuten, dass sie für Teilzeitkräfte proportional abgesenkt wird. Teilzeitbeschäftigten steht deshalb der (tarifvertragliche) Mehrarbeitszuschlag zu, wenn sie ihre individuelle wöchentliche Arbeitszeit proportional zur Zuschlagsgrenze für Vollzeitbeschäftigte überschrei-ten.
Keine „Wartefrist“ für Tarifparteien
Besonders relevant ist, dass das BAG klarstellt hat, dass es nicht erforderlich ist, Tarifvertragsparteien zunächst Zeit zu geben, ihre Regelungen anzupassen. Gerichte müssen diskriminie-rende Tarifbestimmungen selbst korrigieren. Der Anspruch auf gleichbehandelnde Zuschläge besteht unmittelbar. Begründet wird das damit, dass das Diskriminierungsverbot für Teilzeitkräfte bereits aus dem Recht der europäischen Union folgt. Damit grenzt sich das BAG vom Bundesverfassungsgerichts ab, das in einem anderen Zusammenhang gefordert hatte, Tarif-parteien zunächst nachbessern zu lassen. Im Bereich des Diskriminierungsschutzes, insbesondere unter dem Einfluss des Unionsrechts, dürfen Gerichte jedoch nicht abwarten, sondern müssen unmittelbaren Rechtsschutz gewähren.
Bedeutung für die Praxis
Viele Pflegeeinrichtungen sind an Tarifwerke gebunden, orientieren sich in Haustarifverträgen an deren Systematik oder lehnen sich an Tarifwerke an, um die „Tarifpflicht“ nach § 72 SGB XI zu erfüllen. Stehen nach diesen Tarifwerken Teilzeitkräften Überstundenzuschläge grundsätzlich nur zu, wenn die für Vollzeit geltende Arbeitszeitgrenze überschritten ist, wird es kritisch. Überschreitet eine Teilzeitkraft ihre vertraglich vereinbarte Arbeitszeit, können Zuschläge schon deutlich früher anfallen, als nach der bislang starr an der Vollzeit orientierten Regelung. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf Dienstplanung und Personalkosten. Einspringen, kurzfristige Verlängerungen von Diensten oder wiederkehrende regelmäßige Mehrarbeit können nun schneller zuschlagspflichtig werden. Einrichtungen können sich nicht darauf berufen, man müsse erst die nächste Tarifrunde oder Vergütungsvereinbarung mit den Kostenträgern abwarten. Ist eine Zuschlagsregelung diskriminierend, ist sie ab sofort in der vom BAG vorgegebenen Weise anzuwenden, gegebenenfalls auch rückwirkend.
Was jetzt zu tun ist
Wo Zuschläge bislang an die Überschreitung der Vollzeitarbeitszeit anknüpfen, ist durch die Einrichtungsträger zu prüfen, ob diese Regelung nun im Lichte der BAG-Rechtsprechung pro-portional anzupassen ist. Es bedarf eines sachlichen Grundes für eine Ungleichbehandlung. Auch sollte die Erfassung von Mehrabeit und Überstunden und bestehende Modelle zu Ar-beitszeitkonten überprüft werden. Kommt eine Rückwirkung der Ansprüche von Teilzeitkräften auf Überstundenzuschläge in Betracht, haben sich die Einrichtungen hierauf einzustellen. Überdies wird die Personalkostenberechnung für anstehende Vergütungsvereinbarungen mit den Kostenträgern neu justiert werden müssen.
Kategorie: Arbeitsrecht, Pflege & Recht, 09. Dezember 2025
Ansprechpartner:
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